Die Frage, warum wir krank werden, ist nur zu verständlich, denn niemand ist gerne krank. Und doch gehören Krankheiten zu unserem Leben als Menschen. Von manchen Krankheiten genesen wir schnell. Manchmal dauert der Heilungsprozess länger. Und manchmal besteht keine Hoffnung auf Gesundung. Die Frage nach dem „Warum“ stellt sich dann umso mehr.
In Johannes 9 begegnet der Herr einem Mann, der von Geburt an blind ist. Menschlich gesprochen ein hoffnungsloser Fall. Noch nie war ein blind geborener Mensch sehend geworden. Die Jünger stellen ihrem Meister eine Frage, die typisch für ihr jüdisches Denken ist. Sie wollen wissen, warum dieser Mann blind ist. Für sie gibt es nur zwei mögliche Antworten: Entweder hat er selbst gesündigt oder seine Eltern (s. Joh 9,2).
In seiner Weisheit antwortet der Herr: „Weder dieser hat gesündigt noch seine Eltern“ (Joh 9,3). Damit stellt der Herr nicht in Abrede, dass Krankheiten grundsätzlich eine Folge des Sündenfalls sind. Denn das ist tatsächlich so. Wir können sicher sein, dass Adam und Eva im Paradies nicht krank gewesen sind.
Im Fall des Blindgeborenen geht es jedoch darum, dass die Blindheit des Mannes nicht durch eine konkrete Sünde hervorgerufen wurde, sondern eine andere Ursache hatte. Die Jünger mussten lernen, umzudenken.
Die Frage nach der Ursache von Krankheit und Leid bewegt viele Menschen. In zahlreichen menschlichen Religionen besteht ein enger Zusammenhang zwischen Fehlverhalten und Krankheit. Wer leidet, muss etwas falsch gemacht haben (s. z. B. Apg 28,4). Die Freunde Hiobs gingen ebenfalls davon aus. Und tatsächlich gibt es auch Christen, die so denken. Doch so einfach ist das nicht.
Dabei ist es unbestritten, dass die Bibel von Krankheiten spricht, die durch konkrete Sünden hervorgerufen worden sind (s. z. B. 1. Kor 11,30). Doch das ist keineswegs ein Automatismus. Leid und Not können ganz unterschiedliche Ursachen haben, die wir manchmal nicht genau erkennen und unterscheiden können. Deshalb sollten wir, vor allem dann, wenn es sich nicht um uns selbst handelt, mit einer Beurteilung äußerst vorsichtig sein.
Im Fall des blind geborenen Mannes benennt der Herr den Grund. Er fügt seiner Aussage, dass die Ursache nicht eine konkrete Sünde ist, hinzu: „… sondern damit die Werke Gottes an ihm offenbart würden“ (Joh 9,3). Im konkreten Zusammenhang des Kapitels geht es darum, dass die Menschen die Werke des Sohnes Gottes ablehnten, der als das Licht in die Welt gekommen war. Doch unabhängig davon wirft die Antwort des Herrn Licht auf die Frage nach der möglichen und vielleicht tiefsten Ursache von Krankheit und Leid.
Gott hat seine eigenen und weisen Gründe dafür, dass Er Krankheit und Leid zulässt. Es ist möglich, dass Er schwierige Umstände schickt, um etwas von sich zu zeigen und sich selbst zu verherrlichen. So war es im Fall der Krankheit (und sogar des Todes) von Lazarus (s. Joh 11,4). So war es im Zusammenhang mit dem Tod von Petrus (s. Joh 21,19). So war es in einem gewissen Sinn auch bei der Bedrängnis des Apostels Paulus (s. 2. Kor 12,9).
Und auch der Bettler wurde blind geboren, damit die machtvollen Werke Gottes in der Heilung sichtbar werden sollten und der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werden konnte. Die kurze Aussage des Erlösers an seine Jünger enthält ohne Frage großen Trost für uns, wenn wir krank sind oder durch andere Schwierigkeiten gehen.
Es kann sein, dass Gott in seiner Regierung mit uns handelt, weil wir etwas falsch gemacht haben. Es kann jedoch ebenfalls sein, dass Er sich verherrlichen möchte. Wie Er das tut, überlassen wir Ihm. Damals griff Er aufsehenerregend ein und zum ersten Mal überhaupt wurde ein Mensch, der blind zur Welt gekommen war, sehend. Heute handelt Gott meistens weniger spektakulär. Dennoch handelt Er immer wunderbar, wenn Er sich verherrlicht und seine Werke offenbar werden.
Es ist denkbar, dass wir das Handeln Gottes nicht sofort erkennen. Vielleicht geschieht dies erst nach vielen Jahren. Spätestens jedoch am Richterstuhl des Christus wird jede Frage nach der Ursache von Krankheit, Leid und Not beantwortet werden und das wird dazu beitragen, dass Gott verherrlicht wird.
Im konkreten Fall müssen wir nicht krampfhaft fragen, warum Gott etwas zulässt, das uns nicht gefällt und wann Er uns Erleichterung schenkt. Es mag sein, dass wir Gottes Absicht hinter seinem Handeln mit uns erkennen. Häufig wird es jedoch nicht der Fall sein. Das muss uns nicht beunruhigen. In jedem Fall aber dürfen wir uns im Gebet vertrauensvoll in seine Hand legen und sollten das Bewusstsein dessen nicht verlieren, dass Er uns liebt, dass Er uns beisteht und dass Er eine konkrete Absicht hat. Wir wissen, dass alles, was uns begegnet, zu unserem Guten mitwirkt (s. Röm 8,28). Paulus sagt hier nicht, dass wir es verstehen, sondern dass wir es wissen (und somit glauben). Wir müssen nicht alles verstehen, sondern dürfen Gott vertrauen.
Ernst-August Bremicker